22/11: Das Tabu der Energiepolitik

11. November 2022

AZ-Forum-Beitrag von Ulrike Schelling, Kantonsratskandidatin Grüne Weinland, Thalheim an der Thur

 

Im September durchquerten wir mit dem Rennrad die Pyrenäen von Ost nach West. Am vierten Tag assen wir auf einer Wiesenkuppe mit Aussicht auf die höchsten Gipfel der Pyrenäen unser Picknick. Die Berge waren alle aper, nur ein kümmerlicher letzter Rest eines Gletschers war zu erkennen.

Ein alter Bauer stapfte den Abhang hinauf und wir kamen ins Gespräch – über den heissen Sommer, über den Tierschutz, über den Klimawandel. Der pensionierte Landwirt hielt offenkundig wenig von «Ökos». Natürlich stelle er Fallen gegen die Wühlmäuse auf, er könne sonst nicht gescheit mähen. Natürlich habe er die Tiere artgerecht gehalten. Und der Gletscher da drüben sei schon immer mal grösser, mal kleiner gewesen. – Wir fragen ihn, ob er denn ein «Anti-Öko» sei. Er stutzt. Seine Generation hier habe schon immer nachhaltig gewirtschaftet, mit dem Wasser, dem Holz, den Weiden. Später verabschiedet er sich und lächelt verschmitzt: Er meide diese Wiese, er komme hier immer mit Ausflüglern ins Gespräch und versäume seine Zeit. Sagt’s und steigt zusammen mit seinem alten Hund in seinen alten klapprigen Renault. Wir sind uns sicher, dass der Mann mit seiner bodenständigen Genügsamkeit einen kleineren ökologischen Fussabdruck hinterlässt als die meisten politischen «Ökos». Wahrscheinlich kennt er den Begriff der «Suffizienz» nicht, er lebt ihn.

In der gegenwärtigen Kombination von Klima- und Energiekrise ist es in der Schweizer Politik zu einem Schulterschluss für den Ausbau der Erneuerbaren gekommen. Politiker:innen, die bis vor Kurzem auf der Bremse standen, drücken nun plötzlich aufs Gas. Das ist an sich erfreulich. Kurzsichtig ist aber ein Ausbau auf Kosten des Naturschutzes. Denn die Biodiversitätskrise ist nicht minder dramatisch wie die Klimakrise. Nebst dem technischen Energieumbau ginge es darum auch um Suffizienz bzw. um die Frage: Ist es legitim, unserem Energiehunger alles Andere unterzuordnen?

Energie war in den letzten Jahrzehnten sehr günstig. Viele von uns nahmen ihr Vorhandensein als Selbstverständlichkeit wahr. Dabei ist es gar nicht so lange her, dass Ressourcen wie Wasser und Strom ein kostbares Gut waren, mit dem man selbstverständlich haushälterisch umging. Beim Umbau der Energieversorgung gälte es, sich auch daran wieder zu erinnern. Als politische Massnahme bietet sich eine sozialverträgliche progressive Bepreisung der Energie an: Für einen Grundbedarf gilt ein günstiger Tarif, der Mehrverbrauch wird stärker belastet. Ressourcen müssen wieder einen Preis haben, der annähernd ihrem Wert entspricht, welcher sich wiederum an den tatsächlichen externen Kosten orientiert. Denn eines ist klar: Jede Kilowattstunde, die wir nicht verbrauchen, nützt dem Klima und schützt die Natur, also den Lebensraum, den wir mit all den anderen Lebewesen auf dieser Erde teilen.

Ulrike Schelling, Kantonsratskandidatin Grüne Weinland, Thalheim an der Thur